Die Bilanz der Regierung Macri Argentinien: Wahlen in schwieriger Zeit

Politik

In Argentinien wird im Oktober gewählt und es gibt berechtigte Zweifel, ob es Mauricio Macri gelingen wird, wiedergewählt zu werden.

Macri = Hambre (Macri = Hunger). Spray in Buenos Aires vor einem Lebensmittelladen, Januar 2019.
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Macri = Hambre (Macri = Hunger). Spray in Buenos Aires vor einem Lebensmittelladen, Januar 2019. Foto: Lewak (PD)

5. August 2019
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Unter den Regierungen von Néstor und Christina Fernández de Kirchner wurde die Schuld Argentiniens, die nach dem Bankrott 2002 mit ca. 90 Mrd. $ beziffert worden war, durch Vergleiche mit über 90% der Gläubiger auf ungefähr ein Drittel reduziert und in dieser Form auch bedient.

Die Vorgeschichte

7 Prozent der Gläubiger erkannten diese Vergleiche nicht an und forderten die volle Bedienung und Tilgung der Schuld. Sie erhielten vor einem New Yorker Gericht 2012 recht, wodurch auch die Auszahlung der restlichen Schulden blockiert wurde.

Das US-Gericht hatte deshalb Jurisdiktion über Argentiniens Schuld, weil Argentinien unter der Regierung Menem New York als Gerichtsstand anerkannt hatte, als es zusammen mit dem IWF unter dessen damaligem Direktor Camdessus die Peso-Dollar Parität, das sogenannte Currency Board, vereinbart hatte. Im Rahmen dessen gab Argentinien Dollar-Anleihen an der New Yorker Börse heraus, und verschaffte sich dadurch Zahlungsfähigkeit.

Solange, bis die Bedienung der Schuld stockte, der IWF Ende 2001 neue Bedingungen aushandelte, der argentinische Finanzminister die Dollarkonten einfror, die argentinische Regierung stürzte und die Zahlungsunfähigkeit eintrat.

Argentinien war dadurch von den internationalen Finanzmärkten abgeschnitten und konnte sich dort seit 2002 nicht mehr neu verschulden. Man muss begreifen, was das heute für einen Staat heisst, wenn er seinen Kredit verliert. Von was bestreitet er seine Ausgaben, zahlt seine Beamten, baut Strassen oder repariert Brücken?

Der argentinische Staat war für seine Finanzierung auf die Steuern und Abgaben verwiesen, die er seiner eigenen Ökonomie abknöpfen konnte, und auf die sehr umfassende Kooperation mit China, das Argentinien grosszügige Kreditrahmen, teilweise Warentausch jenseits der Dollar-Verrechnung einräumte und sich in die argentinische Ökonomie einkaufte.

Die argentinische Regierung fuhr einen protektionistischen Kurs, erhob Einfuhrzölle auf Importe von anderen Ländern, setzte einen fixen Wechselkurs zum $ fest, fror die Preise für Energieträger ein und subventionierte Energie und Grundnahrungsmittel.

Das alles störte natürlich die USA, den IWF, der seit dem Jahr 2002 aus Argentinien verbannt war, und die internationale Finanzwelt, die diese Schuldenstreichung übel aufgenommen hatte. Erstens, weil Schulden eigenmächtig gestrichen worden waren, und zweitens, weil sich mit Argentinien keine windigen Finanzgeschäfte mehr machen liessen.

Man muss sich dabei vor Augen halten, dass es die vorige Regierung Menem und sein Finanzminister, der weltweit gerühmte Domingo Cavallo waren, die die Verschuldung Argentiniens und den Bankrott von 2001/2002 verursacht hatten, und alle Massnahmen unter den Regierungen Kirchner ein Notprogramm waren, mit dem sie eine gecrashte Wirtschaft wieder handhabbar machten.

Die Wirtschaftspolitik des Teams von Christina Fernández de Kirchner entsprang also nicht sozialistischen oder indigenen Visionen, wie das von Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien, oder dem Wunsch, zu einer eigenständigen Wirtschaftsmacht aufzusteigen, wie das der PT in Brasilien, sondern es war ein Löcher-Stopfen und eine Rückführung auf eigene Reichtumsquellen, um die Nationalökonomie instand zu halten.

Es war, mit einem Wort, defensiv, und das internationale Finanzsystem wäre gut beraten gewesen, die Dinge so zu lassen, wie sie waren. Dergleichen Bescheidenheit ist aber den Akteuren des Imperialismus und des Finanzsystems fremd, und sie wollten einen neuen Besen, der mit dieser protektionistischen Wurschtelei aufräumte.

Regierungswechsel

Mauricio Macri führte im Rahmen seiner Wahlkampagne viele Verhandlungen. Er erhielt Kreditzusagen der grossen US-Banken, wenn er die alte Schuld wieder anerkennen und die Gläubiger voll befriedigen würde. Er versprach den Provinzgouverneuren wieder Verschuldungsfähigkeit, also die Erlaubnis zur Ausgabe von Provinz-Anleihen, wie sie unter Menem bestanden hatte. Er führte einen Antikorruptionswahlkampf und versprach Transparenz und Volkswohlstand, wenn er an die Macht käme. Wir steigen wieder in den Weltmarkt ein und alles kommt in Ordnung!

Ob ihm das viele Leute glaubten und er deshalb die Wahl gewann, oder ob es Wahlschwindel und Stimmenkauf gab, sei dahingestellt. Bei solchen Wahlen, wo der „Richtige“ an die Macht kommt, wird von der internationalen Staatengemeinschaft und den Menschenrechtshütern nicht so genau überprüft, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist.

Die Bilanz der Regierung Macri

Unter Macri konnte sich Argentinien wieder verschulden, da er mehr oder weniger als ersten Akt seiner Regierung die 7% der Gläubiger befriedigte, die in New York 2012 recht bekommen hatten – die Geierfonds, wie sie unter der vorigen Regierung genannt worden waren. Es handelte sich nämlich grösstenteils um Hedgefonds, die die völlig entwertete Staatsschuld Argentiniens 2002 um einen Apfel und ein Ei aufgekauft hatten, und jetzt den vollen Wert dafür erhielten.

Damit waren natürlich die Vergleiche, die unter Néstor Kirchner abgeschlossen worden waren, hinfällig, und die argentinische Staatsschuld erhöhte sich auf einen Schlag. Sie musste ebenfalls bedient werden.

„Zwischen dem Dezember 2015, als Macri an die Macht kam, und 2018, als der IWF eingriff, war Argentinien der weltweit grösste Emittent von Schuld in absoluten Zahlen. Es gab 143 Milliarden Dollar Staatsschuld aus.“ (El País, 2.6. 2019)

Das sind natürlich nur die offiziellen Zahlen, und es gab sicherlich auch noch andere Schuldaufnahmen unter der Hand, die bei einem Regierungswechsel ans Licht kommen werden. Ausserdem sagen diese Zahlen nichts über die Bedingungen aus, zu denen Argentinien sich verschuldete. Es musste immer höhere Zinsen zahlen, um Kredit zu erhalten, am Schluss wurden Schatzscheine mit 40 % Verzinsung ausgegeben. Sogar diese offiziellen 143 Mrd. ziehen daher einen Schuldendienst nach sich, der weitaus höher ist als die aufgenommene Summe.

Macri gab den Wechselkurs frei. Der Peso schiffte daraufhin kräftig ab, alle Importe verteuerten sich. Die Inflation schnellte in die Höhe. Sie beträgt derzeit 50%. Das lähmt natürlich die Geschäftstätigkeit im Land. Im Jahr 2018 hat der Peso 50% seines Wertes gegenüber dem Dollar verloren.

Macris Regierung hob die Importzölle auf. Damit kamen westliche Waren ins Land, und ruinierten viele argentinische Betriebe. Die sperrten zu und zahlten dadurch auch keine Steuern mehr ins argentinische Budget. Argentiniens Ausfuhren sackten ab, dazu kamen Missernten. Eine Rezession setzte ein.

„Die Gesamtinflation während der Regierungszeit Macris macht 260% aus, der Peso hat sich seit seinem Amtsantritt um 360% gegenüber dem Dollar entwertet. Die Bautätigkeit, der Handel und die Industrie, die fast die Hälfte der argentinischen Arbeitsplätze stellen, haben in 11 Monaten der Rezession einen Rückgang von fast 40% hinnehmen müssen. Die Kaufkraft der Gehaltsabhängigen verringerte sich um fast 20%.“ (ebd.)

Natürlich nur für die, die noch einen Job haben.

Argentinien kriegte Ende 2018 keinen Kredit mehr. Der IWF musste zur Rettung herbeieilen. Argentinien erhielt einen Schnellfeuerkredit über mehr als 55 Milliarden Dollar. Die Rückzahlung wurde, unter Berücksichtigung der leeren Kasse Argentiniens, auf einige Jahre gestundet:

„Den Bedingungen nach, die in Washington unterzeichnet wurden, muss Argentinien 3,8 Milliarden im Jahr 2021, 2022 18,5 Mrd., 2023 23 Mrd. und 2024 10 Mrd. zurückzahlen.“ (ebd.)

Wie soll Argentinien diese Summen zurückzahlen oder auch den Kredit nur bedienen, obwohl es jetzt bereits pleite ist? Dazu kommen die Zinsen und Tilgungsraten für die vor Macri und die unter Macri aufgenommenen Kredite.

Wenn die Wahlen wieder die Kirchner-Partie an die Macht bringen, wie wird sich diese Regierung gegenüber den ganzen unter Macri aufgenommenen Kreditverpflichtungen verhalten? Das ist die grosse Unbekannte.

Wie man sieht, steht einiges auf dem Spiel. Macri, das ist sicher, wird alles unterschreiben, was man ihm vorlegt, aber davon wird Argentinien nicht zahlungsfähiger. Es handelt sich nur immer um ein Hinausschieben des Crashes, und ein Aufbürden von Schuld an künftige Generationen.

Kommt aber jemand anderer an die Macht, so ist fraglich, ob er (oder sie) alle Verpflichtungen anerkennt, die die Regierung Macri eingegangen ist. Es kam ja auch in Europa schon öfter vor, dass unvorteilhafte Deals aller Art von den Nachfolgeregierungen in Zweifel gezogen wurden. Da war aber dann die EU zur Stelle und verbot Modifikationen. Argentinien hat eine solche Über-Regierung nicht.

Schützenhilfe von auswärts

Als erster trat der charmante neue Präsident Brasiliens auf, der bei sich zu Hause am liebsten wieder eine Militärdiktatur einführen würde. Er kam Anfang Juni nach Argentinien, wo Demos gegen ihn stattfanden. Er nannte Macri seinen „Bruder“ und gab den Argentiniern den Befehl, gefälligst ihn zu wählen:

„»Das argentinische Volk muss verantwortungsvoll wählen und ohne sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen«, sagte der brasilianische Regierungschef. »Wir wollen keine neuen Venezuelas,«“ (El País, 7.6. 2019)

Das ist eine ziemlich unverhüllte Drohung, die Bolsonaro da ausspricht: Wenn ihr die Falschen wählt, so komme ich und mache euch fertig! Ich blockiere euch, ich lasse mein Militär aufmarschieren, usw.

Natürlich ist das teilweise leeres Geschwätz, und der etwas grössenwahnsinnige Möchtegern-Diktator Brasiliens könnte vermutlich gar nicht so gegen Argentinien vorgehen, aber er gibt einmal seine Absicht bekannt, falsches Wahlverhalten im Nachbarstaat bestrafen zu wollen.

Macri, das sieht man auch dem Foto der beiden an, ist nur mässig erfreut über diesen Auftritt seines brasilianischen Amtskollegen. Irgendwie wirkt das eigenartig, wenn der Regierungschef des Nachbarstaates den Argentiniern sagt, was sie zu tun haben. Es lässt den argentinischen Präsidenten alt ausschauen. Zweitens kann es, angesichts der Ressentiments, die Bolsonaro weltweit auslöst, durchaus die gegenteilige Wirkung haben. Also die Wähler dazu bringen, dass sie sagen: Macri auf keinen Fall!

Der Präsident Kolumbiens, Ivan Duque, wollte im Wettbewerb um das Sich-Wichtig-Machen in Argentinien nicht zurückstehen. Er marschierte einige Tage später in Buenos Aires auf:

„Während seines etwas über 24 Stunden dauernden Besuchs in Buenos Aires sagte Duque, dass ein Sieg für Macri bei den nächsten Parlamentswahlen im Oktober »grundlegend für Lateinamerika« wäre.“ (El País, 11.6. 2019)

Auch eine starke Meldung. Die Wahlen in Argentinien sollen nicht nur dem Land einen Regierungschef bescheren, sondern gleich ganz für ganz Lateinamerika „grundlegend“, also vermutlich richtungsweisend sein. Wenn da wer Falscher an die Macht kommt …

Ganz wohl ist dem Verfasser dieses Artikels bei der Berichterstattung nicht:

„Es ist nicht üblich, dass Präsidenten anderer Länder ohne Wenn und Aber auf einen Präsidentschaftskandidaten eines Landes setzen.“

Irgendwie hat das eine schiefe Optik – der Präsident eines G 20-Staates wird ein wenig wie derjenige einer Bananenrepublik behandelt, wenn seine Untertanen von ausländischen Gästen aufgefordert werden, doch gefälligst ihn zu wählen. Brasilien und Kolumbien werten sich da sozusagen zu Schutzmächten Argentiniens auf und schwellen stolz die Brust, weil bei ihnen zu Hause haben sie alles fest in der Hand. Meinen sie zumindest.

Wer wird wohl der Nächste sein, der den argentinischen Wählern sagt, was sie zu tun haben?

Man merkt an solchen Auftritten auch, wie die Demokratie in Lateinamerika nicht mehr als der Weisheit letzter Schluss betrachtet wird.

Setzen wir unseren Kandidaten mittels demokratischer Wahlen durch, so ists gut, denken sich US-treue Politiker quer durch den Kontinent. Wenn nicht, sind auch andere Optionen auf dem Tisch.

Amelie Lanier